Neue Studie hilft, die zunehmende Komplexität bei der Spitex zu erklären
Nicht nur pflegen und betreuen die Spitex-Mitarbeitenden in der Schweiz immer mehr Menschen – sie nehmen auch wahr, dass die Pflegesituationen der Spitex immer komplexer werden. Diese subjektive Wahrnehmung liess sich nicht objektiv belegen – bis jetzt: Eine neue Studie zeigt auf, welche Komplexitäts-Faktoren dazu führen, dass die Spitex für einzelne Situationen sehr viele Leistungen erbringt. Auf dieser Basis fordert Spitex Schweiz, dass alle diese Leistungen endlich angemessen finanziert werden.
Heute gibt es über 450’000 Spitex-Klientinnen und -Klienten in der Schweiz – über doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Die Spitex-Mitarbeitenden stellen zudem fest, dass ihre Fälle immer komplexer werden, unter anderem aufgrund der Ambulantisierung und der Alterung der Gesellschaft (vgl. Kasten «Gründe für die Zunahme der Komplexität»). Weil die Spitex diese Zunahme der Komplexität gegenüber ihren Finanzierern belegen muss, hat Spitex Schweiz eine Studie bei der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Auftrag gegeben. Nun liegen die Ergebnisse vor.
Treiber für hohe Spitex-Leistungen: Instabilität, überlastete Angehörige, Demenz
Die Studie fokussiert einen Aspekt von Komplexität: die Leistungsintensität. Genauer untersucht sie, welche konkreten Komplexitätsfaktoren mit einer sehr hohen Zahl an Pflegestunden zusammenhängen (ab 1000 Minuten pro Monat; für Details siehe Kasten «Das Design der Studie»). Zu diesen Faktoren gehören unter anderem Mobilitätseinschränkungen, eine Demenz-Diagnose oder Inkontinenz. Auch Klientinnen und Klienten mit Verhaltensauffälligkeit, Fatigue (Erschöpfung) und Instabilität (immer neue Diagnosen und Symptome) wiesen eine sehr hohe Leistungsintensität auf. So auch Fälle mit vielen involvierten Gesundheitsfachpersonen oder mit Konflikten zwischen Klientin/Klient und Angehörigen.
Weiter zeigt die Studie, dass leistungsintensive Fälle bei der Spitex längst Alltag sind: Über ein Fünftel der untersuchten 1035 Klientinnen und Klienten benötigen über 60 Stunden Spitex-Leistungen pro Quartal. Ab dieser Grenze sind die Krankenversicherer berechtigt, einen Pflegefall zu überprüfen – und auf diese Überprüfung bezieht sich eine der Forderungen, welche Spitex Schweiz aus der Studie ableitet.
Forderung: Gesetzliche Bestimmungen und Praxis der Versicherer überprüfen
Das aktuelle Finanzierungssystem legt der Spitex unnötige Hürden in den Weg: Die häufige Überprüfung von Fällen, welche die 60-Stunden-Grenze überschreiten, bedeutet für alle Beteiligten einen sehr grossen administrativen Mehraufwand. Und dies, obwohl die Versorgung zu Hause aus qualitativer und finanzieller Sicht auch bei Pflegesituationen mit über 100 Pflegestunden pro Quartal sinnvoll ist. Eine weitere Hürde: Spitex-Leistungen rund um Abklärung, Beratung und Koordination («A-Leistungen») werden von den Versicherern oft gekürzt. Die Studie zeigt nun aber auf, wieso solche Leistungen nötig sind, etwa für die Bewältigung von instabilen Situationen.
Die Spitex verursacht nur 3 Prozent der gesamten Kosten in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) und trägt dennoch massgeblich dazu bei, dass die Alterung der Gesellschaft bewältigt werden kann – und dass immer mehr Menschen trotz Krankheit oder Beeinträchtigung zu Hause leben dürfen. Die ZHAW-Studie zeigt auf, warum die Spitex für die Erfüllung dieser wichtigen Aufgabe viele allgemeine und spezialisierte Leistungen erbringt. Entsprechend fordert Spitex Schweiz, dass die Gesetzgeber die Krankenpflege-Leistungsversordnung (KLV) überarbeitet – und damit sicherstellt, dass endlich alle Leistungen der Spitex zur Bewältigung der zunehmenden Komplexität angemessen finanziert werden.
Gründe für die Zunahme der Komplexität
Die Ursachen für die Zunahme der komplexen Fälle bei der Spitex sind vielfältig: So führt die politische Forderung «ambulant vor stationär» im Gesundheitswesen dazu, dass Patientinnen und Patienten schneller aus dem Spital entlassen und von der Spitex gepflegt werden. Ebenso treten viele Menschen später ins Heim ein und werden länger zu Hause von der Spitex gepflegt und betreut. Auch die zunehmende Alterung der Gesellschaft führt zu einer starken Zunahme der komplexen Spitex-Fälle, etwa aufgrund von Multimorbidität und Polymedikation. Ein weiterer Grund ist die rasche Entwicklung im Gesundheitswesen: Fortschritte in der Medizin, der Medizinaltechnik und der Digitalisierung erlauben es zunehmend, auch Menschen mit schwereren Erkrankungen zu Hause zu pflegen. Aus all diesen Gründen beschäftigt die Spitex zunehmend hochqualifiziertes und -spezialisiertes Personal und bietet immer mehr Spezial-Dienstleistungen wie ambulante Psychiatrie, Kinderspitex, Wundbehandlung oder Palliative Care an.
Kommt hinzu, dass die Spitex-Mitarbeitenden durch den Fachkräftemangel einem zunehmenden Druck ausgesetzt sind und immer mehr Zeit in die Abrechnung bei besonders leistungsintensiven Fällen investieren müssen – auch diese Faktoren tragen dazu bei, dass die Spitex-Mitarbeitenden ihren Arbeitsalltag als immer komplexer erleben.
Das Design der Studie
Spitex Schweiz hat die Studie «Komplexität von Spitex-Leistungen und ihre Abbildung im Vergütungssystem» (kurz: «Komplexitätsstudie») beim Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie (WIG) der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Auftrag gegeben. In einem ersten Schritt haben verschiedene Expertinnen und Experten 72 Komplexitäts-Faktoren definiert, welche Spitex-Klientinnen und Klienten oder deren Umfeld betreffen, und in einem Komplexitätsmodell abgebildet. Dieses bildete die Basis für die Hauptstudie, eine longitudinale multizentrische Beobachtungsstudie. Acht Spitex-Organisationen aus drei Sprachregionen beteiligten sich daran; die Ergebnisse stützen sich auf die Auswertung der im Jahr 2022 erhobenen Daten von 1035 Klientinnen und Klienten. In der Studie wurde insbesondere untersucht, welche der 72 Faktoren mit einer hohen Intensität der Spitex-Leistungen gemäss der Krankenpflegeleistungsverordnung (KLV) insgesamt zusammenhängen – und welche spezifisch mit den KLV-A-Leistungen, also mit Leistungen der Abklärung, Beratung und Koordination.
Weitere Informationen zur Studie finden Sie hier. Weitere Ausführungen zur Studie finden Sie in unserem Webmagazin.